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Neurojackpot

12 Kriterien, um neuroplastische Schmerzen & Symptome zu erkennen

22. Januar 2023

[Bild: 12 Kriterien, um neuroplastische Schmerzen & Symptome zu erkennen]

Eine der Fragen von Betroffenen chronischer Schmerzen & Symptome, die über das neue Schmerz- und Symptomverständnis resp. das Mind Body Verständnis und die daraus abgeleiteten Behandlungsmethoden stolpern, ist, wie sie erkennen können, ob ihre Beschwerden neuroplastischen Ursprungs sind und somit verlernt werden können oder nicht. Es liegt in der Natur der Sache, dass es keine Biomarker gibt, um neuroplastische Schmerzen & Symptome als solche zu diagnostizieren. Tatsächlich gibt es aber einige Merkmale, die typisch sind und anhand derer die Wahrscheinlichkeit für diese Art von Schmerzen & Symptomen geprüft werden kann. Aus der Forschung resultieren insgesamt 12 Kriterien, die auch in der Literatur zu finden sind und die bereits vor allem im englischsprachigen Raum von Mind-Body-Praktizierenden erfolgreich angewendet werden1,2.

Sobald akute strukturelle Verletzungen oder Krankheiten - welche eine sofortige medizinische Intervention erfordern - ausgeschlossen sind, lohnt es sich, diese 12 Kriterien durchzugehen und das Vorliegen neuroplastischer Schmerzen & Symptomen als mögliche Erklärung in Erwägung zu ziehen.

Wenn einige der nachfolgenden Punkte zutreffen, ist das ein starkes Indiz für neuroplastische Schmerzen & Symptome. Selbst wenn sich jemand darin nicht auf den ersten Blick wiedererkennt, könnte es sich dennoch um neuroplastische Beschwerden handeln. Neuroplastische Symptome sind sehr gut darin, strukturelle Symptome nachzuahmen. Manchmal erkennen Betroffene die persönlichen Indizien erst Schritt für Schritt, wenn sie sich vertieft mit dem ganzheitlichen Mind Body Verständnis und den daraus abgeleiteten Behandlungsmethoden auseinandersetzen.

Es gibt diesen Beitrag auch als Hörbuchfolge im Podcast ‘Muss das so wehtun?’ (Folge #4), den wir co-hosten.

1) Der Beginn der Symptome fällt mit belastenden Ereignissen im Leben oder einer stressigen Zeit zusammen

Bei vielen Menschen treten die Schmerzen & Symptome erstmals während oder nach einer besonders stressigen Zeit auf - unabhängig davon, ob diese aus positiven Ereignissen oder negativen hervorgegangen ist. Oft ist der emotionale Stress für die körperlichen Symptome verantwortlich1, 3. Es kann sich um eine stressige Situation wie eine Hochzeit, eine Scheidung, die Geburt eines Kindes, die Erkrankung von Eltern oder Kindern, ein Todesfall, der Beginn einer Berufslehre usw. handeln. Dabei ist zu beachten, dass es nicht um das Ereignis selbst geht, da auch kleine Ereignisse neuroplastische Schmerzen & Symptome auslösen können, sondern um den Grad der emotionalen Belastung für eine Person, welcher aus dem Ereignis resultiert.

2) Schmerzen oder Symptome treten ohne Verletzung beziehungsweise Krankheit auf oder bestehen nach der Ausheilung einer Verletzung und Genesung von einer akuten Erkrankung weiter fort

Schmerzen können ohne vorangegangene Verletzung oder mit einer vermeintlichen Verletzung auftreten. “Vermeintlich” bedeutet hier, dass die Möglichkeit besteht, einem Ergebniss einer Bildgebung, beispielsweise einer Auffälligkeit an der Wirbelsäule glauben zu schenken, was aber in Wahrheit keinen Zusammenhang mit dem Schmerz hat. Aber auch bei einer tatsächlichen Verletzung können die Schmerzen & Symptome nach der Ausheilung und Genesung weiter bestehen, in diesem Fall handelt es sich ebenfalls um neuroplastische Schmerzen & Symptome. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern: “Wenn wir nicht die Fähigkeit hätten, von Verletzungen zu heilen, wären wir längst ausgestorben” (Dr. Howard Schubiner).

3) Schmerzen & Symptome sind nicht konsistent

Wenn Schmerzen & Symptome je nach Tageszeit, Ort oder Aktivität in ihrer Intensität variieren, im Körper umherwandern oder nur an bestimmten Wochentagen auftreten, spricht das sehr für einen neuroplastischen Ursprung. Diese Muster machen deutlich, wie gross die psychosozialen Komponenten der Schmerzen & Symptome sind. Aus rein biomedizinischer Sicht ergibt es wenig Sinn, dass sich Schmerzen & Symptome nach gewissen Uhrzeiten, Wochentagen oder Orten richten. Auch Schmerzen & Symptome, die oft in der Nacht oder beim Erwachen beginnen, deuten auf einen neuroplastischen Ursprung hin.1

4) Multiple Schmerz- und Symptomproblematik

Oft leiden Betroffene unter Schmerzsymptomen an mehreren Stellen ihres Körpers. Es ist wichtig zu verstehen, dass drei oder vier nicht zusammenhängende körperliche Erkrankungen unwahrscheinlich sind und eine einzige zugrunde liegende Ursache wie neuroplastischer Schmerz eine viel plausiblere Erklärung ist1, 2. Die meisten Betroffenen kommen mit nur einem aktuellen Schmerzsymptom zu Neurojackpot, doch bei der Überprüfung ihrer Schmerz- und Symptomgeschichte stellt sich oft heraus, dass sie eine Vorgeschichte mit mehreren Symptomen mitbringen. Eine Vergangenheit mit mehreren Symptomen und verschiedenen Schmerzen ist ein Anzeichen für einen neuroplastischen Ursprung, vor allem dann, wenn diverse medizinische Untersuchungen zur Diagnose von systemischen Erkrankungen negativ, das heisst unauffällig, waren.

5) Schmerzen & Symptome wandern umher oder breiten sich von einer Region auf eine andere aus (sie “strahlen” aus)

Bei Personen mit neuroplastischen Schmerzen breiten sich die Schmerzsymptome im Laufe der Zeit häufig von einem kleinen auf einen grösseren Bereich aus oder die Schmerzen wandern von einem Körperbereich zu einem anderen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass sich strukturell bedingte Schmerzen nicht auf diese Weise verhalten. Oft umfassen herrkömmliche Begründungen muskuläre Problematiken oder eine Thematik mit Faszien, da diese im ganzen Körper zusammenhängen und ein feinmaschiges Geflecht sind, das alle Muskeln, Knochen, Organe usw. umhüllt und durchdringt. Hier ist wichtig zu wissen: verspannte Muskeln oder “verklebte” Faszien sind nicht zwingend die Ursache von Schmerzen. Man kann verspannte Muskeln und verklebte Faszien haben, ohne unter Schmerzen zu leiden.

6) Symptome stehen im Zusammenhang mit belastenden Situationen oder deren Antizipation, wie z.B. Familienbesuche oder Stress am Arbeitsplatz

Ein deutliches Anzeichen für neuroplastische Schmerzen & Symptome, welches viele Menschen erleben, ist, wenn die Schmerzen & Symptome in stressigen Zeiten auftreten oder sich verschlimmern. Auch im umgekehrten Fall sind die Schmerzen & Symptome einer Person wahrscheinlich neuroplastisch, wenn sie abnehmen, wenn sie eine Aktivität oder Lebenserfahrung geniesst. Beide Varianten deuten darauf hin, dass die Schmerzen & Symptome mit dem Grad der Angst oder dem emotionalen Zustand der Person verbunden sind.

7) Konditionierte Reaktionen

Häufig werden Schmerzen & Symptome mit einem neutralen Auslöser wie verschiedene Aktivitäten (Stehen, Gehen, sich Bücken, Arbeit am Bildschirm,…), Positionen (Sitzen, Liegen, längeres Stehen, …), dem Wetter (Wind, Druckunterschiede, …), Gerüchen, Geräuschen, der Umgebung (z. B. dem Arbeitsplatz), der Tageszeit oder mit dem Verzerr bestimmter Nahrungsmittel in Verbindung gebracht. Diese Auslöser sind eine konditionierte Reaktion. Konditionierte Reaktionen sind eine wichtige evolutionsbiologische Eigenschaft, die das Hirn entwickelt hat, um Assoziationen zwischen einer bestimmten Situation oder einer Verhaltensweise und negativen Folgen herzustellen, um sich so zu schützen. Dieser Mechanismus kann aber auch überempfindlich werden und das Hirn lernt, auf ungefährliche, neutrale Auslöser mit Schmerzen & Symptomen zu reagieren. Ein guter Trick, um zu prüfen, ob es sich um einen Auslöser, und damit um eine konditionierte Reaktion für neuroplastische Schmerzen & Symptome handelt, ist es, sich eine Aktivität, eine Position oder das Konsumieren eines Nahrungsmittels vorzustellen. Schon bei der Vorstellung, ein glutenhaltiges Nahrungsmittel zu verzerren, bekommst du Bauchschmerzen? Du stellst dir vor, dich zu bücken und dabei beginnt dein Rücken (stärker) zu schmerzen? Klare Hinweise, dass die neuroplastische Komponente deiner Schmerzen & Symptome gross ist.

8) Symmetrische Schmerzen & Symptome

Die Schmerzen & Symptome entsprechend nicht den anatomischen und physiologischen Gesetzmässigkeiten und treten z.B. symmetrisch auf oder betreffen eine ganze Körperseite, den ganzen Arm oder das ganze Bein. Es kommt vor, dass sich die Schmerzen zunächst auf einer Körperseite entwickeln und dann auch auf der anderen Seite des Körpers auftreten. Zum Beispiel wenn beide Handgelenke, beide Beine, beide Knöchel oder beide Arme betroffen sind. Es ist wichtig zu verstehen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich strukturell bedingte Schmerzen & Symptome auf diese Weise verhalten. Beide Handgelenke haben sich das ganze Leben lang unabhängig voneinander entwickelt, warum sollten also beide zur gleichen Zeit anfangen zu schmerzen?

9) Schmerzen & Symptome treten verzögert auf

Manchmal treten Schmerzsymptome erst nach Beendigung einer Tätigkeit oder am nächsten Tag auf. Strukturell bedingte Schmerzen & Symptome haben in der Regel keinen solchen verzögerten Beginn. Kommt es zu Verzögerungen, ist dies ein Zeichen für neuroplastische Schmerzen & Symptome. Muskelkater ein oder zwei Tage nach einer körperlichen Anstrengung ist jedoch eine prominente Ausnahme.

10) Kindheitstraumata (ACE-Skala)7

Das Erleben belastender Ereignisse in der Kindheit beispielsweise in Form von körperlichem, sexuellem oder emotionalem Missbrauch oder aufgrund eines Suchtmittelmissbrauchs einer engen Bezugsperson, einer psychischen Erkrankung einer engen Bezugsperson oder häuslicher Gewalt gegenüber einer engen Bezugsperson oder auch eine Trennung oder Scheidung der Eltern erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass man später im Leben chronische Schmerzen & Symptome entwickelt4, 5. Es muss sich nicht um ein Schocktrauma handeln, um die Wahrscheinlichkeit für neuroplastische Schmerzen & Symptome zu erhöhen. Auch dann, wenn man sich in der Kindheit aus den unterschiedlichsten Gründen nicht sicher und geborgen gefühlt hat, kann dies die Entwicklung chronischer Schmerzen & Symptome später im Leben begünstigen6. Auch Entwicklungstraumata spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung neuroplastischer Schmerzen & Symptome. Einen Bezug herzustellen zwischen ungünstigen Umständen in der Kindheit und chronischen Schmerzen & Symptomen ist insbesondere plausibel, da diese Voraussetzungen dazu führen, dass Betroffene die Welt als gefährlich wahrnehmen und später auch ihre Schmerzen & Symptome als etwas sehr Bedrohliches wahrnehmen und interpretieren6.

Es empfehlen sich für die vertiefte Auseinandersetzung mit dieser Thematik und jener unter nachfolgendem Punkt 11) unter anderem die Arbeiten von Gabor Maté (z.B. das Buch “Vom Mythos des Normalen”), Bessel van der Kolk (z.B. das Buch “Das Trauma in dir”) und Peter A. Levine.

11) Typische Persönlichkeitsmerkmale

Betroffene von neuroplastischen Schmerzen & Symptomen weisen häufig einige oder viele folgender Persönlichkeitsmerkmale auf: Perfektionismus, übermässige Selbstkritik und Gewissenhaftigkeit, das Bedürfnis, es anderen ständig recht machen wollen (“People Pleasing”) und Selbstaufopferung, übermässige Angepasstheit, Probleme sich abzugrenzen und für sich und seine Bedürfnisse einzustehen und Ängstlichkeit. Aufgrund dieser Persönlichkeitsmerkmale neigen Betroffene dazu, sich selbst stark unter Druck zu setzen und sich ständig Sorgen zu machen. All dies führt dazu, dass sich das Hirn emotional in Gefahr wähnt und sich in hoher Alarmbereitschaft befindet. Wenn sich unser Hirn emotional in Gefahr wähnt, vor allem über einen längeren Zeitraum, kann es körperliche Schmerzen & Symptome erzeugen6, 8.

12) Fehlender pathologischer Befund

Wenn körperliche Untersuchungen keinen pathologischen Befund aufdecken, keine Anzeichen einer Verletzung finden und einen normalen neurologischen Status feststellen, kann von neuroplastischen Schmerzen & Symptomen ausgegangen werden. Es ist jedoch immer wichtig, die notwendigen medizinischen Abklärungen zu treffen, um strukturelle Schäden und Krankheiten, die eine sofortige medizinische Intervention erfordern, auszuschliessen.

Die beste Möglichkeit, herauszufinden, ob es sich bei den eigenen Schmerzen & Symptomen um neuroplastische Schmerzen & Symptome handelt, ist, sich mit dem Mind Body Verständnis auseinanderzusetzen und den daraus abgeleiteten Behandlungsmethoden eine Chanze zu geben. Das Paradoxe daran ist, dass der beste Weg, sich selbst davon zu überzeugen, darin besteht, den Schmerz und die Symptome zu heilen. Das ist ein Huhn-Ei Problem. Wenn Betroffene aber erst einmal erkannt haben, dass ihr Hirn massgeblich an ihren Schmerzen & Symptomen beteiligt ist, ist es einfacher zu akzeptieren, dass sie durch neuronale Pfade verursacht werden, tatsächlich neuroplastisch sind und damit auch wieder verlernt werden können.

Sobald akute strukturelle Probleme oder Krankheiten - welche eine sofortige medizinische Intervention erfordern - ausgeschlossen sind und du motiviert bist, dich darauf einzulassen, gibt es keinen Grund, der dagegen spricht, dich vertieft mit dem Mind Body Verständnis auseinanderzusetzen und den daraus abgeleiteten Behandlungsmethoden eine Chance zu geben.


Literatur

1Abbass, A., Schubiner, H. (2018). Hidden from View: A clinicians guide to psychophysiologic disorders (1. Aufl.). Psychophysiologic Press.2Clarke, H., Schubiner, H., Clarke-Smith, M. & Abass, A. (2019). Psychophysiologic disorders: Trauma informed, interprofessioal diagnosis and treatment (1. Auflage). Psychophysiologic Disorders Association.3Clarke, D. D., & Schubiner, H. Introductions. In Clarke, D.D., Schubiner, H., Clarke-Smith, M. & Abass, A. (2019). Psychophysiologic disorders: Trauma informed, interprofessioal diagnosis and treatment (1. Auflage). Psychophysiologic Disorders Association. S. 3-13.4Anda, R. F., Felitti, V. J., Bremner, J. D., Walker, J. D., Whitfield, C., Perry, B. D., Dube, S. R., & Giles, W. H. (2006). The enduring effects of abuse and related adverse experiences in childhood. A convergence of evidence from neurobiology and epidemiology. European archives of psychiatry and clinical neuroscience, 256(3), 174–186.5Green, C. R., Flowe-Valencia, H., Rosenblum, L., & Tait, A. R. (2001). The role of childhood and adulthood abuse among women presenting for chronic pain management. The Clinical journal of pain, 17(4), 359–364.6Gordon, A., Ziv, A. (2021). The Way Out (1. Aufl.). Avery.7Felitti, V. J., Anda, R. F., Nordenberg, D., Williamson, D. F., Spitz, A. M., Edwards, V., Koss, M. P., & Marks, J. S. (1998). Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the leading causes of death in adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study. American journal of preventive medicine, 14(4), 245–258.8Maté, G., Maté, D. (2022). The Myth of Normal. Trauma, Illness, & Healing in a Toxic Culture. (1. Aufl.) Penguin.
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