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Neurojackpot

10 Dinge, die wir über Rückenschmerzen wissen sollten

12. März 2024

[Bild: 10 Dinge, die wir über Rückenschmerzen wissen sollten]

Rückenschmerzen zählen in der Schweiz zu den häufigsten gesundheitlichen Beschwerden. In der aktuellsten schweizerischen Gesundheitsbefragung aus dem Jahr 2022 wurden 21’930 Personen gefragt, ob sie in den letzten vier Wochen Rückenschmerzen gehabt hätten. Rund 40% der Männer und 50% der Frauen gaben an, zum Zeitpunkt der Befragung in den letzten vier Wochen von Rückenschmerzen betroffen gewesen zu sein1 - selbst wenn die Rückenschmerzen nur bei rund 30% der Menschen chronisch werden, ist dies eine enorm grosse Anzahl Menschen, die darunter leiden.

Während sich diverse Mythen rund um Rückenschmerzen wacker in der Gesellschaft halten, zeichnen wissenschaftliche Erkenntnisse unterdessen ein neues Bild2. Um eine Chronifizierung zu verhindern und für die gänzliche Heilung von bereits chronisch gewordenen Rückenschmerzen ist es wichtig, sich ein korrektes Verständnis anzueignen.

1) Anhaltende Rückenschmerzen können beängstigend sein, aber sie sind selten gefährlich.

Anhaltende Rückenschmerzen können beängstigend und belastend sein, aber sie sind selten wirklich bedrohlich und es ist aus biomedizinischer Sicht sehr unwahrscheinlich, dass sich folgenschwere Einschränkungen wie beispielsweise eine Gehunfähig daraus entwickelt. Mit anderen Worten: Es widerspricht anatomischen und physiologischen Gesetzmässigkeiten, dass anhaltende Rückenschmerzen immer schlimmer werden und nicht geheilt werden können.

2) Das Älterwerden ist keine Ursache für Rückenschmerzen.

Obwohl es eine weit verbreitete Annahme und Sorge ist, dass das Älterwerden Rückenschmerzen verursacht oder verschlimmert, wird dies durch die Forschung nicht bestätigt. Zwar nehmen sogenannte strukturelle “Abnormalitäten” der Wirbelsäule mit dem Alter zu, die Forschung zeigt aber, dass dies normale Alterungsprozesse sind, wie etwa graue Haare oder Falten im Gesicht und dass diese normalen “Abnormalitäten” wie Bandscheibenvorwölbungen oder Degenerationen in den seltensten Fällen die Ursache chronischer Rückenschmerzen sind3.

3) Anhaltende Rückenschmerzen sind selten mit einer ernsthaften Gewebeschädigung/Verletzung verbunden.

Der Rücken ist stark. Wenn man sich verletzt hat, heilt das Gewebe in den meisten Fällen innerhalb von drei Monaten. Wenn der Schmerz länger anhält und chronisch wird, bedeutet das in der Regel, dass andere (psychosoziale) Faktoren dazu beitragen, als die Verletzung selbst.

4) Medizinische Bildgebungen zeigen selten die Ursache von Rückenschmerzen.

Bildgebende Verfahren wie MRT sind nur bei einer Minderheit von Menschen hilfreich, um einen wirksamen Behandlungsplan zu erstellen. Auf Scans können viele beängstigend klingende Befunde wie z.B. Bandscheibenvorwölbungen, Degeneration oder Arthrose festgestellt werden. Leider wird in den Berichten nicht erwähnt, dass diese Befunde auch bei Menschen ohne Rückenschmerzen sehr häufig vorkommen und dass sie keine Aussage über die Stärke der Schmerzen oder den Grad der Behinderung zulassen. Medizinische Bildgebung ist gut geeignet, um Krankheitspathologien, z. B. Tumore, zu erkennen - nicht aber Schmerzen! Manchmal zeigt sie unsere “Falten im Inneren”: normale, altersbedingte Veränderungen an der Wirbelsäule, wie z.B. Bandscheibendegenerationen. Es handelt sich um normale “Abnormalitäten”. In den meisten Fällen gibt es aber keinen Zusammenhang zwischen dem, was auf der medizinischen Bildgebung sichtbar ist und den Schmerzsymptomen und Funktionseinschränkungen, die jemand hat3.

5) Schmerzen bei Bewegung und Sport bedeuten nicht, dass man sich damit schadet.

Wenn der Schmerz anhält und chronisch wird, reagieren die Wirbelsäule und die umliegenden Muskeln häufig sehr empfindlich auf Berührungen und Bewegungen. Die Schmerzen, die man bei Bewegungen und Aktivitäten spürt, spiegeln wider, wie empfindlich die Strukturen geworden sind - nicht, wie geschädigt sie sind! Es ist also durchaus normal, dass man Schmerzen hat, wenn man wieder damit beginnt, sich zu bewegen und Sport zu treiben. Das legt sich in der Regel mit der Zeit, je aktiver man wird. Strategien wie die graduelle Exposition und Somatic Tracking können dabei unterstützen, dem Hirn beizubringen, die als gefährlich interpretierten Bewegungsformen wieder angemessen zu interpretieren und die damit verbundenen Schmerzen wieder zu verlernen. Im Kapitel PRT findest du mehr Infos zu diesen beiden Übungen.

6) Rückenschmerzen werden nicht durch eine schlechte Körperhaltung oder “zu langes Sitzen” verursacht.

Die Art und Weise, wie wir sitzen, stehen und uns bücken, verursacht keine Rückenschmerzen per se - auch wenn diese Tätigkeiten schmerzhaft sein können. Eine Vielzahl von Körperhaltungen sind gesund für den Rücken. Es ist unbedenklich, sich bei alltäglichen Tätigkeiten wie z.B. Sitzen, Bücken und Heben mit rundem Rücken zu entspannen - im Grunde ist es sogar effizienter! Häufig handelt es sich bei den obigen Positionen und Aktivitäten um konditionierte Reaktionen: Das Hirn assoziiert neutrale Dinge mit Gefahr und reagiert darauf mit Schmerz. Wenn das Hirn etwas als gefährlich einstuft, kann es mit Schmerz warnen. Je häufiger das passiert, desto leichter geht das. Konditionierte Reaktionen entstehen also durch Lernprozesse im Hirn, die dank der Plastizität des Hirns aber auch wieder verändert werden können. Erfahre im Kapitel PRT, wie das gelingen kann.

7) Rückenschmerzen werden nicht durch eine “schwache Körpermitte” verursacht.

Eine schwache Rumpfmuskulatur ist nicht die Ursache von Rückenschmerzen. Vielmehr spannen Menschen mit Rückenschmerzen ihre Rumpfmuskulatur als Schutzreaktion vermehrt an. Das ist so, als würde man die Faust ballen, nachdem man sich das Handgelenk verstaucht hat. Es ist wichtig, dass die Muskeln stark sind, wenn man sie braucht, aber es ist nicht hilfreich, sie ständig angespannt zu haben. Es kann hilfreich sein, zu lernen, die Rumpfmuskulatur bei alltäglichen Aufgaben zu entspannen.

8) Es findet nicht einfach ein “Verschleiss” des Rückens durch tägliche Belastungen statt.

Genau so, wie das Heben von Gewichten die Muskeln stärkt, machen Bewegung und Belastung im Alltag den Rücken stärker und gesünder. Aktivitäten wie Laufen, sich Bücken und Heben stellen keine Gefahr dar, wenn man schrittweise damit beginnt und regelmässig übt. Aus biomedizinischer Sicht ist der Rücken weniger sensibel, als wir uns das immer wieder selber erzählen: auch eine “falsche” Bewegung führt aus anatomischer Sicht nicht direkt zu Rückenschmerzen.

9) Einen Schmerzschub zu haben, bedeuten nicht, dass man etwas gemacht hat, dass einen körperlichen Schaden angerichtet hat.

Zwar können Schmerzphasen sehr unangenehm und beängstigend sein, doch haben sie in der Regel nichts mit Gewebeschäden zu tun. Viel häufiger sind es verschiedene biopsychosoziale Faktoren, welche eine Phase mit vermehrten Schmerzen auslösen. Wenn die Schmerzen wieder aufflammen, ist es wenig hilfreich, sie wie eine Verletzung zu behandeln. Das Mind Body Wissen einsetzen und versuchen, durch diesen “Rückfall” zu navigieren, indem verschiedene biopsychosoziale Faktoren in Betracht gezogen werden, die zu einem erneuten Aufflammen der Rückenschmerzen beitragen könnten, ist weit vielversprechender für ein rasches Reduzieren und Loswerden der Schmerzen.

10) Injektionen, Operationen und starke Medikamente sind in der Regel keine wirksamen Behandlungen und die Forschung weiss unterdessen auch, weshalb das so ist.

Injektionen, chirurgische Eingriffe und starke Medikamente wie Opioide sind bei anhaltenden Rückenschmerzen auf lange Sicht nicht wirklich wirksam. Sie sind vor allem mit Risiken verbunden und können sehr unangenehme Nebenwirkungen haben. Es wurden zahlreiche Studien veröffentlicht, die belegen, dass Operationen bei Rückenschmerzen oft nicht zielführend sind4-9. Chronische Rückenschmerzen werden so oft erfolglos versucht durch Operationen zu beheben, dass sich dafür ein medizinischer Begriff etabliert hat: Failed-Back-Surgery-Syndrom7. Im Kapitel PRT erfährst du, was du stattdessen gegen chronische Rückenschmerzen unternehmen kannst.

Der Grossteil chronischer Rückenschmerzen ist neuroplastischen Ursprungs. Wirksame Behandlungen, die weiter gehen als das Erlernen von Schmerzmanagementstrategien müssen daher nicht nur auf den Körper, sondern vor allem auf das Hirn und Nervensystem abzielen. Ein vollständiges Verlernen der chronischen, neuroplastischen Schmerzen ist für die meisten Menschen möglich. Mit dem Wissen darum, beginnt der Prozess, davon zu genesen.

Das englischsprachige Poster als Ergänzung zur Veröffentlichung von O’Sullivan et al. (2020), welches diesem Blogbeitrag als Basis dient, ist z.B. auf PainScience.com zu finden. Ebenso gibt es auf Youtube ein kurzes Video dazu.


Literatur

1Bundesamt für Statistik (2018). Schweizerische Gesundheitsbefragung 2017. Übersicht. Neuchâtel. S. 15. Abgerufen am 20. April 2020, unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/erhebungen/sgb.assetdetail.6426300.html.2O'Sullivan, P. B., Caneiro, J. P., O'Sullivan, K., Lin, I., Bunzli, S., Wernli, K., O'Keeffe, M. (2020). Back to basics - 10 facts every person should know about back pain. British journal of sports medicine, 54(12), 698–699.3Brinjikji, W., Luetmer, P. H., Comstock, B., Bresnahan, B. W., Chen, L. E., Deyo, R. A., Halabi, S., Turner, J. A., Avins, A. L., James, K., Wald, J. T., Kallmes, D. F., & Jarvik, J. G. (2015). Systematic literature review of imaging features of spinal degeneration in asymptomatic populations. AJNR. American journal of neuroradiology, 36(4).4Thomas, K. C., Fisher, C. G., Boyd, M., Bishop, P., Wing, P., & Dvorak, M. F. (2007). Outcome evaluation of surgical and nonsurgical management of lumbar disc protrusion causing radiculopathy. Spine, 32(13), 1414–1422.5Mirza, S. K., & Deyo, R. A. (2007). Systematic review of randomized trials comparing lumbar fusion surgery to nonoperative care for treatment of chronic back pain. Spine, 32(7), 816–823.6Louw, A., Diener, I., Fernández-de-Las-Peñas, C., & Puentedura, E. J. (2017). Sham Surgery in Orthopedics: A Systematic Review of the Literature. Pain medicine (Malden, Mass.), 18(4), 736–750.7Chan, C. W., & Peng, P. (2011). Failed back surgery syndrome. Pain medicine (Malden, Mass.), 12(4), 577–6068Jensen, M. C., Brant-Zawadzki, M. N., Obuchowski, N., Modic, M. T., Malkasian, D., & Ross, J. S. (1994). Magnetic resonance imaging of the lumbar spine in people without back pain. The New England journal of medicine, 331(2), 69–73.9Kleinstück, F., Dvorak, J., & Mannion, A. F. (2006). Are "structural abnormalities" on magnetic resonance imaging a contraindication to the successful conservative treatment of chronic nonspecific low back pain?. Spine, 31(19), 2250–2257.
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