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Neurojackpot

Bin ich schuld?

6. Dezember 2024

[Bild: Bin ich schuld?]

Die Tatsache, dass die Genesung von chronischen Schmerzen & Symptomen mit intensiver innerer Arbeit verbunden ist, wird leider häufig missverstanden. Daraus entsteht der falsche Umkehrschluss, dass Betroffene selbst schuld seien – entweder daran, dass sie krank geworden sind, oder daran, dass sie noch nicht genesen sind. Wenn wir auf neurojackpot.com oder in den sozialen Medien über das Mind Body Verständnis und die daraus resultierenden Behandlungsmethoden aufklären, stossen wir immer wieder auf Kritik. Es wird uns vorgeworfen, Betroffene nicht ernst zu nehmen, ihr Leid und die Schwere ihrer Erkrankung nicht anzuerkennen. Solche Vorwürfe treffen uns tief – vielleicht deshalb, weil auch wir Erfahrungen mit starken Schuldgefühlen gemacht haben und uns in solchen Momenten mit unserem heutigen Verständnis und unserer Botschaft (resultierend aus einem kräftezerrenden Eigenprozess und Genesungsweg) nicht gesehen oder verstanden fühlen. Möglicherweise ist dies auch die tieferliegende Motivation für diesen Beitrag. Ein Versuch, mitfühlende Klarheit zu schaffen und zu zeigen “Wir sehen dich!“.

Die Schuldfrage ist omnipräsent in der Mind Body Welt und weil es aus eigener Erfahrung nicht viel bringt, einfach gesagt zu bekommen, dass Schuldgefühle nicht nötig sind, setzen wir uns in diesem Beitrag vertieft damit auseinander, validieren das starke Gefühl der Schuld und dekonstruieren es. Denn was wir uns für alle Betroffenen wünschen, ist eine Ent-Schuldigung. Das bedeutet, den Druck von Schuldgefühlen bewusst loslassen zu können.

Es ist wichtig, gleich zu Beginn ein grundlegendes Missverständnis auszuräumen. Dass neuroplastische Schmerzen & Symptome – also Schmerzen & Symptome, die vom Hirn unbewusst gelernt wurden – durch psychologische Methoden abtrainiert werden können, bedeutet nicht, dass sie eingebildet sind. Es bedeutet auch nicht, dass sie mit reiner Willenskraft oder Disziplin verschwinden1. So funktioniert das Nervensystem und Hirn schlicht nicht. Schmerz & andere Symptome sind äusserst real, genau wie ihre zugrunde liegenden, strukturellen und messbaren Veränderungen im Hirn2. Es ist ein komplexes Zusammenspiel und an keinem Punkt bist du daran schuld.

Schuldgefühle als Symptom erkennen oder warum Schuldgefühle entstehen

Die Tatsache, dass für Menschen zwangsläufig eine (eigene) Schuldzuweisung aus dem Mind Body Verständnis folgen muss oder deren Projektion in Form von Wut und Missgunst auf Menschen, die sich für dieses Verständnis einsetzen, zeigt uns, dass wir uns in einer gewaltigen Schieflage befinden, was den Umgang mit chronischen Schmerzen & Symptomen und jeder einzelnen Geschichte, die dahinter steht, angeht. Unser Gesundheitssystem ist überfordert mit der Behandlung von Schmerzen & Symptomen „unbekannter“ Ursache. Betroffene durchlaufen Odysseen an Konsultationen, Therapien & Medikamenten, ohne wirklich gehört oder ernst genommen zu werden. Fehlende Diagnosen und nicht funktionierende Behandlungsmethoden führen nicht selten zu einem impliziten oder expliziten Vorwurf: Du strengst dich nicht genug an. Reiss dich zusammen. Tu nicht so! Der Grund? Jemand ‚muss‘ doch Schuld sein, bei so grossem Leid..?!

Es ist wichtig zu verstehen, dass Schuldgefühle kein persönliches Versagen darstellen. Vielmehr sind sie unserer Meinung nach ein Symptom unserer gesellschaftlichen Strukturen, unserer Erziehung und unserer Prägungen. Schuldgefühle zeigen, wie verzerrt unser Verständnis von Verantwortung und Heilung oft ist.

  • Das Versagen des Gesundheitssystems: Ein Auslöser, der für viele Betroffene prägend ist, liegt in dem Gefühl, nicht ernst genommen, nicht gesehen und nicht gehört zu werden. Oftmals erleben wir, dass unsere Erfahrungen und Symptome heruntergespielt oder gar als “unnormal” betrachtet werden. Sätze wie „Sei doch nicht so“, „Reiss dich zusammen“ oder „So schlimm kann es nicht sein“ treffen uns tief. Wenn dann auch noch eindeutige Diagnosen, klar belegbare Testresultate oder wirksame Behandlungsmethoden ausbleiben, entsteht schnell die quälende Frage: Liegt es doch an mir? Bilde ich mir alles nur ein? Bin ich einfach zu schwach, reisse mich nicht genug zusammen oder strenge mich zu wenig an? Schliesslich scheint es anderen doch auch zu gelingen – warum also nicht mir? Nicht selten wird mit Beschämung gearbeitet: Ich soll mehr Sport treiben, Achtsamkeit üben, Freundschaften pflegen, Dankbarkeit kultivieren, an meinen Stressmanagementfähigkeit arbeiten, Gewicht reduzieren oder aber an Masse zulegen… und wenn die Beschwerden dann noch immer fortbestehen - tja, dann war ich wohl nicht streng genug mit mir, oder entspannt genug, oder diszipliniert genug, oder.. ja was denn alles noch?! Genau, eine never ending story und nicht selten sind die “Tipps” als Doppelmoral zu lesen.

  • Unsere Sozialisierung in einer neoliberalen Gesellschaft: Unsere individualisierte, neoliberale Gesellschaft bringt uns bei, dass wir allein für unser Glück und unser Leid verantwortlich sind. Erfolg, Gesundheit, Zufriedenheit – all das wird uns als individuelle Leistung verkauft. Und wenn etwas schiefläuft, dann liegt es – so die Logik – doch an uns, oder? Dieser Druck ist toxisch und verschärft Schuldgefühle bei chronischen Beschwerden.

  • Frühkindliche Prägungen: Oft wurzeln Schuldgefühle jedoch in unserer frühen Kindheit. Früh lernen wir, uns anzupassen, um die Bindung nicht zu gefährden. Wenn unsere Bedürfnisse nicht ausreichend gesehen und erfüllt werden, lernen wir als Kinder eine Überlebensstrategie: „Der Fehler liegt bei mir. Wenn ich mich ändere, wenn ich besser bin, bekomme ich vielleicht die Zuwendung, die ich brauche.“ Diese frühen Wunden prägen uns und treiben uns an mit Botschaften wie: Mach mehr, sei besser. Schuld wird zum unbewussten Motor, um zu überleben - ein Gefühl, das sich einbrennt, weil es einmal ‚funktioniert‘ hat!1,3 Diese tiefen Muster begleiten uns oft bis ins Erwachsenenalter – und können bei chronischen Schmerzen & Symptomen erneut aktiviert werden.

Die Ent-Schuldigung: Ein neuer Blick auf Heilung

Was wir uns für alle Betroffenen wünschen, ist eine Ent-Schuldigung. Das bedeutet, den Druck von Schuldgefühlen bewusst loszulassen.

  • Du bist nicht schuld an deinen Schmerzen & Symptomen.
  • Du bist nicht schuld an deiner Vergangenheit oder daran, wie du geprägt wurdest.
  • Du bist nicht schuld, wenn du es nicht „einfach so“ schaffst, deine Schmerzen & Symptome zu überwinden.

Aber du kannst etwas für deine Genesung tun – in deinem Tempo, auf deine Weise. Heilung ist ein Prozess, der Zeit, Mitgefühl, Kraft und Geduld braucht. Und es ist ein Prozess, bei dem niemand alleine sein sollte.

Unser eigener Genesungsweg hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, Kopf (Mind) und Körper (Body) zusammenzubringen. Es reicht nicht, intellektuell zu verstehen, dass ich nicht schuld bin – ich muss es auch fühlen (lernen). Und genau das wünschen wir auch dir: Dass du nicht nur Schuldgedanken loswerden kannst, sondern auch auf Körperebene eine neue Leichtigkeit erfährst. Die Auseinandersetzung mit Gedanken der Schuld auf kognitiver und den Schuldgefühlen auf körperlicher Ebene, ist aus unserer Sicht zentraler Bestandteil des Genesungsprozesses.

Gemeinsam gegen die Schuld

Lasst uns einander darin unterstützen, Schuldgefühle abzulegen. Chronische Schmerzen & Symptome sind kein individuelles Versagen – sie sind Ausdruck eines komplexen Systems, das sich verändern kann. Und auf diesem Weg dürfen wir uns gegenseitig stärken. Falls du Unterstützung benötigst, findest du hier unser Angebot und zahlreiche Ressourcen.

Du bist nicht schuld. Und du bist nicht allein.

Herzlich, Adrian & Samira


Literatur

1Charf, D. (2019). Auch alte Wunden können heilen. Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wir dennoch Frieden in uns selbst finden können. Kösel-Verlag.2Derbyshire, S. W., Whalley, M. G., Stenger, V. A., & Oakley, D. A. (2004). Cerebral activation during hypnotically induced and imagined pain. NeuroImage, 23(1), 392–401.3Maté, G., Maté, D. (2022). The Myth of Normal. Trauma, Illness, & Healing in a Toxic Culture. (1. Aufl.) Penguin.
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