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Neurojackpot

Traumasensitive Breathwork & Atemcoaching

10. Februar 2025

[Bild: Traumasensitive Breathwork & Atemcoaching]

Unser autonomes Nervensystem ist essenziell für unser Überleben, da es grundlegende Körperfunktionen, wie Herzfrequenz, Verdauung, Atmung, Pupillengrösse und Blasenfunktion aufrechterhält und steuert, ohne dass wir darüber nachdenken und etwas tun müssen. Gesteuert wird das Nervensystem aus der Schaltzentrale Hirn, welches Teil des autonomen Nervensystems ist. Die Aufgabe des Hirns, als Teil des Nervensystems ist es, uns zu beschützen und damit unser Überleben zu sichern. Dabei arbeitet das Hirn nicht besonders differenziert. Es folgt einem Bewertungsraster, welches nur wenige Möglichkeiten kennt: Sicherheit, Lebensgefahr oder vielleicht Lebensgefahr. Wenn beispielsweise Signale von unseren fünf Sinnen, mit denen wir unsere Umwelt wahrnehmen, das Hirn erreichen, wird dort in Nanosekunden entschieden, ob es sich um eine lebensbedrohliche Gefahr handelt oder nur vielleicht lebensbedrohlich ist. In ersterem Fall (“lebensbedrohlich”) reagiert das primitive Hirn sofort und die Amygdala & der Hypothalamus aktivieren den Sympathikus, um ausreichend Energie für die bevorstehende Flucht oder den Kampf zu mobilisieren: der Puls steigt, um mehr Sauerstoff zu den Muskeln transportieren zu können, die Pupillen weiten sich, um die Umgebung schärfer wahrnehmen zu können, der Blutzuckerspiegel erhöht sich, um den Muskeln möglichst viel Energie bereitstellen zu können - Körperreaktionen, die dazu dienen, uns möglichst rasch ausser Gefahr und in Sicherheit bringen zu können. Handelt es sich aber nur um eine vielleicht lebensbedrohliche Gefahr, werden weitere Hirnareale wie der präfrontale Kortex (unser bewusstes Denken) und der Hippocampus (Erinnerungszentrum) beigezogen, um zu untscheiden, welche Körperreaktion der Situation gerecht wird. Haben wir zum Beispiel Erinnerungen abgespeichert, in denen sich eine ähnliche Situation als harmlos herausgestellt hat, nutzt das Hirn dies als Mass für künftige Entscheidungen - und umgekehrt. Traumatische Erfahrungen sowie jahrelanges Leben mit chronischen Schmerzen & Symptomen können das Hirn und Nervensystem so beeinflussen, dass sie überempfindlich reagieren und Situationen häufiger als bedrohlich einstufen, selbst wenn keine unmittelbare Gefahr für unser Überleben besteht.

Hinweis zur Ausführlichkeit und Literaturangaben: Im Anschluss dieses Textes sind dessen Hauptquellen angegeben. Es gibt über diesen Blogartikel hinaus an anderen Stellen jedoch noch weit mehr zu lernen über das Funktionieren unseres Nervensystems und wie dieses durch unsere Biographie, insbesondere belastende Erfahrungen und Traumata beeinflusst wird, als wir hier vereinfacht darstellen. Wir empfehlen unter anderem die Arbeit und Literatur von Dami Charf, Verena König, Peter A. Levine, Gabor Maté und Bessel van der Kolk.

[Bild: Atem]

Hier kommt die CO2-Konzentration ins Spiel

Unser Körper misst ununterbrochen den CO₂- und O₂-Gehalt im Blut, um die Atmung und den Kreislauf optimal anzupassen. Sensoren in der Halsschlagader (Carotis) und der Hauptschlagader (Aorta) leiten diese Informationen an den Nucleus tractus solitarius (NTS) im Hirnstamm weiter, wo entschieden wird, ob Anpassungen nötig sind. Dabei ist unser Hirn nicht neutral, sondern durch Erfahrungen geprägt: Es hat gelernt, bestimmte CO₂- und Sauerstoffkonzentrationen als “sicher” oder “bedrohlich” einzustufen – auch wenn diese physiologisch unbedenklich wären. Welche minimale CO2-Konzentration und welche maximalen Konzentration interpretiert der NTS noch als sicher? Und welche Konzentration wird als gefährlich eingestuft? Sobald eine Situation als gefährlich interpretiert wird, wird der Sympathikus aktiviert: Die Atmung wird schneller, das Herz schlägt kräftiger, der Blutdruck steigt – der Körper wird in Alarmbereitschaft versetzt (Flucht-Kampf- oder Erstarrung). Umgekehrt sorgt der Parasympathikus für Beruhigung, wenn die von der Carotis und Aorta gemessenen Werte als sicher eingestuft werden.

Je nachdem wie der Nucleus Solitarius kalibriert ist, reagiert er sensibler oder weniger sensibel auf Veränderungen. Das ist das sogenannte Toleranzfenster: Das Hirn reagiert also nicht nur auf Sinnesreize von aussen, sondern auch auf Veränderungen im Körper selbst – nämlich auf Veränderungen in der Blutchemie. Ein (dauerhaft) dereguliertes Nervensystem kann dazu führen, dass völlig “normale” Atemveränderungen als Gefahr interpretiert werden und körperliche Symptome aktivieren - selbst wenn medizinisch alles in Ordnung ist.

Wie kalibriert sich der Nucleus tractus solitatrius?

Welche CO2-Konzentrationen diese körpereigenen “Mess- und Interpreationsstationen” als sicher interpretieren, wird massgeblich als Fötus & bei der Geburt definiert. Aber auch unsere Biographie, Prägungen und Entwicklungs- und Schocktraumata spielen eine Rolle, genauso wie unser Lebensstil und belastende Situationen im Erwachsenenalter.

Traumasensitive Atemarbeit

Über die traumasensitive Atemarbeit können wir das Toleranzfenster vergrössern. Wir können dem Hirn beibringen, dass auch tiefere oder höhere CO2-Konzentrationen sicher sind und es diese nicht als Gefahr interpretieren muss. Weil ein signifikantes Verändern der CO2-Konzentration per Definition Stress ins System bringt, ist es wichtig, dass die Begleitung traumasensitiv ist: Ziel ist es, innerhalb dieser Stresssituation, welche auch Traumaenergie aktivieren kann, eine neue, korrigierende Erfahrung zu machen und dem Hirn so zu zeigen, dass alles in Ordnung ist und dass keine Gefahr besteht. Dabei ist es von enormer Wichtigkeit, dass wir in sicherer Bindung sind und Verbundenheit erfahren. Warum das so ist, erklärt die Polyvagaltheorie und an dieser Stelle laden wir dich auch einfach ein, mutig und neugierig zu sein und dich darauf einzulassen.

Wir tauchen noch etwas tiefer

Wir können dem Hirn beibringen, höhere CO2-Konzentrationen als sicher wahrzunehmen. Dies tun wir, indem wir -vereinfacht gesagt-, weniger atmen, mit Atempausen arbeiten und mit leichtem Lufthunger. Diese Praxis führt dazu, dass mehr CO2 im System bleibt, weil weniger CO₂ abgeatmet wird. Dadurch steigt die CO2-Konzentration im Blut. CO2 ist eine schwache Säure, und senkt den pH Wert des Blutes. Je saurer das Milieu, desto besser wird auch der vom Hämoglobin transportierte Sauerstoff an die Zellen abgegeben (Bohr-Effekt), da wo der Sauerstoff benötigt wird: Mit dem Sauerstoff wird Energie erzeugt. Weniger Atmen erhöht also die Effizienz der Sauerstoffaufnahme der Zellen. Wir können dem Hirn aber auch beibringen, tiefere CO2-Konzentrationen als sicher wahrzunehmen. Dies tun wir über die verbundene Atmung, das gewollte und begleitete Hyperventilieren. Durch das starke Atmen, atmen wir mehr Luft ab und damit auch mehr CO2 und die CO2-Konzentration im Blut sinkt, während der pH-Wert steigt. Mit sinkender CO2-Konzentration verschlechtert sich die Fähigkeit des Hämoglobins, den transportierten Sauerstoff an die Zellen abzugeben. Der Sauerstoff bleibt im Blut und wird über die Lungen wieder abgeatmet (Bohr-Effekt).

Ein Beispiel: Ich bin zu einem Abendessen eingeladen, bei dem ich ausser dem Gastgeber niemanden kenne. Eine tiefe Prägung in mir, ein Gefühl des nicht Genügens, nicht Dazugehörens, nicht erwünscht zu sein, wird aktiviert, was Stress auslöst. Mein Nervensystem möchte mich schützen und in Sicherheit bringen. Unter Stress verändert sich unter anderem unser Atemmuster: Wir atmen schneller und flacher, denn wir wollen möglichst viel Sauerstoff aufnehmen für die bevorstehende Flucht oder den Kampf - ein Urmechanismus. Der NTS registriert über die Carotis und Aorta ein Sinken der CO2-Konzentration und wenn er jetzt so kalibibiert ist und gelernt hat, diese gesunkene CO2-Konzentration als Gefahr zu interpretieren, aktiviert er die Flucht- oder Kampfreaktion erneut respektive lässt diese am Laufen. Aufgrund der potenziellen Ablehnung der Gruppe (was ich seit der Kindheit als Gefahr abgespeichert habe) und durch das Sinken der CO2-Konzentration ist das Hirn mehrfach zum Schluss gekommen, dass tatsächlich Gefahr besteht und es mich schützen muss, indem es mich auf Flucht oder Kampf, und wenn das nicht ausreicht, Erstarrung vorbereitet. Mit einem Zuwachs an Körperwahrnehmung und bewusster Atemarbeit kann in solchen Situationen im Moment selber das Atemmuster verändert werden. Gleichzeitig wird im Rahmen des Atemcoachings daran gearbeitet, die Kalibrierung zu verändern. So kann dem Hirn beigebracht werden, das CO2-Toleranzfenster zu vergrössern und es lässt die einmal aktivierte Flucht-, Kampf- oder Erstarrungsreaktion wieder abebben oder interpretiert die Situation mit der Zeit als sicher.

Auf den Punkt gebracht

Einerseits möchten wir die Auswirkungen von Stressoren und Triggern mindern, das heisst, wir wollen unser Toleranzfenster vergrössern, so dass unser Hirn nicht sämtliche Geschehnisse als Gefahr interpretiert und nicht ständig im Flucht-, Kampf- oder Erstarrungsmodus landet. Andererseits möchten wir lernen, unsere Stresszyklen und damit unser Nervensystem besser regulieren zu können, so dass wir, wenn Stress aufkommt und wir aktiviert werden oder erstarren, eine Wahl und Strategien haben, um den Stresszyklus zu beenden und nicht im chronisch aktivierten oder erstarrten Zustand zu verharren. Traumasensitive Breathwork & Atemcoaching kann dabei unterstützen, auf die Signale unseres Körpers achten und steuern zu lernen, wie wir auf Stressoren und Trigger reagieren, um so mehr Resilienz für das Nervensystem zu schaffen.

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Literatur

Marcher, L., & Fich, S. (2010). Body encyclopedia: A guide to the psychological functions of the muscular system. North Atlantic Books.McKeown, P. (2021). The Breathing Cure: Develop new habits for a healthier, happier, and longer life (Foreword by L. Hamilton). Humanix Books.Nestor, J. (2020). Breath: The new science of a lost art. Riverhead Books.
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